Martin Amanshauser

Der Golden-Gate-Tauchflug

Wohl die einzige Stadt der Welt , in der sich seit 30 Jahren fast nichts geändert hat: San Francisco ist heute das größte Freileichtmuseum der Achziger Jahre.

Im Caffe Trieste, dem ältesten italienischen Kaffeehaus der Westküste – aus dem Jahr 1956 – sitzt ein alter Mann mit weißen Haaren. Am Stammtisch ist er der Brennpunkt des Gesprächs. Der Gedanke liegt nahe, dass es sich um Lawrence Ferlinghetti, 81, handelt, den letzten lebenden Poeten der Beat-Generation. Kommt das Thema auf die Politik und Obama, wird der Weißhaarige laut: „Yes they can, yes they can, but what they can?“, räsoniert er. Die Kollegen, gleichfalls um die 81, pflichten ihm bei – bis sie wieder in ihre Zeitungen versinken. Eine halbe Stunde später sind die Espressi ausgetrunken, und die Gruppe löst sich auf. Der Mann, der Ferlinghetti sein könnte, grüßt nach allen Richtungen und tritt gemessenen Schrittes ins Freie.

Für Fremde ist es nicht so einfach, das Caffe Trieste zu finden. Bevor man plötzlich doch vor der Tür steht, kommt man am Caffe Roma vorbei, am Caffe Pucchini, am Caffe Greco, der Trattoria Pinocchio, der Pizzeria Pulcinella, der The Trattoria, dem Ristorante Mona Lisa, dem Steps of Rome, dem Sandwich Giordano, dem Chianti Room – um nur einige Lokale zu nennen, die hier in Little Italy, oder eher Big Italy blühen.

Sie blühen schon lange: Im Stadtviertel North Beach (kein Strand ist weit und breit zu sehen) steht im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit still. Das angrenzende Chinatown mag permanent in Bewegung sein, doch wo ist Chinatown das nicht? Little Italy bewegt sich kaum. Around the corner befindet sich in einem Eckhaus die Buchhandlung City Lights Books (einst City Lights Bookstore), und der Verlag City Lights Press, zwei Unternehmen, die Lawrence Ferlinghetti vor mehr als einem halben Jahrhundert gegründet hat. Sie sehen aus wie damals. Für Ferlinghetti, seinen Doppelgänger, oder irgendeinen anderen alten Mann im Trieste, hat sich San Francisco im letzten Vierteljahrhundert kaum geändert.

Das Monstergedicht „Howl“ von Allen Ginsberg wurde 1956 in der City-Lights-„Pocket Poet“-Reihe zum ersten Mal abgedruckt, weil sich kein renommierter Verlag fand, der solche Zeilen druckte: „I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked,…“ Niemand, der Ginsbergs Stimme gehört hat, wird diesen ersten Satz je vergessen, das Crescendo des zeitgenössischen urbanen Kaddish. Natürlich kommt irgendwann die Stelle über jene Typen, die sich von heiligen Motorradfahrern in den Arsch ficken lassen und dabei vor Freude schreien – sie bescherte dem Gedicht landesweite Aufmerksamkeit. Das Buch wurde beschlagnahmt, doch Ferlinghettis Rechtsanwälte gewannen den Prozess. Ginsbergs heilige Schweinereien durften danach im prüden Amerika der Fünfziger Jahre offiziell ausgesprochen werden.

Aus der City Lights trat vor vielen Jahren auch der schüchterne Jack Kerouac, der voller Selbstzweifel und ohne einen Dollar in der Tasche am Monumentalepos seines Lebens schrieb. Heute wäre er höchstens über zwei bauliche Änderungen verwundert: die Jack-Kerouac-Alley und den Ausblick schräg gegenüber auf das einzige Beat-Museum der Welt, wo Originalausgaben seines „On the road“ und anderen Klassikern zu haben sind. Der Eintrittspreis beträgt 5 Dollar, die man als Besucher zurückerhielte, wenn man nicht zufrieden mit dem Museum wäre. Aber welches kalte Herz könnte eine solche  Rückforderung stellen? Auf zwei Etagen breitet sich die Welt der Beat-Autoren recht undidaktisch und unwissenschaftlich aus, wie es Kerouacs bester Freund Neal Cassady wohl nicht erwartete, als er vorausblickend, nicht gerade bescheiden, schrieb: „Think of the funny times historians of future will have in digging up period in last half of 51 when K lived with C, much like Gauguin and Van Gogh, or Neitche (sic) and Wagner (…) and how under the tutoring of the young master K, C ironed out much of his word difficulties and in the magnificent attic K did his best work …“

Sieht man vom Beat-Museum ab, würde Kerouac recht viel von diesem Viertel wiedererkennen. Doch nicht nur in North Beach ist die Zeit stehen geblieben – sondern überall!

San Francisco ist mittlerweile das weltweit größte Freilichtmuseum der Achtziger Jahre. Einerseits mag das auf den produktiven Mangel an urbanen Investitionen zurückzuführen sein, der sich sachte auszuwirken beginnt, andererseits auf die – sehen wir es positiv – traditionell freundliche Rückständigkeit seiner Bewohner. Auch heute ist nicht ganz klar, ob das Kürzel Frisco gerade in Mode ist oder von den Bewohnern abgelehnt wird und nur die heillose Gier widerspiegelt, via In-Ausdrücken dazuzugehören. Nennen wir die Stadt stattdessen SF? Das würde sie wiederum allzu tief in den Schatten des populärsten Stadtkürzels des Bundesstaats CA, nämlich LA, stellen. San Francisco spricht sich am besten als jenen eleganten Viersilber aus, der seine Sehenswürdigkeiten nicht groß anpreisen muss, um sie weltberühmt zu machen.

Da ist zunächst einmal die gigantische Hängebrücke. Heroisch ragt sie aus dem Nebel, elegant steht sie in der Sonne, erfreulich geschmackvoll in der Farbe, deren Name erst durch sie bekannt wurde: „international orange“. Die 1937 fertiggestellte Golden Gate, die auch zu Fuß oder per Fahrrad überquert werden kann, führt in touristischer Hinsicht allerdings ins Nirgendwo, in die feine Vorstadt Sausalito. Errichtet wurde sie erst nach einem kleinen Kulturkampf: Die Fährgesellschaften hatten gegen den Brückenbau geklagt, die Bevölkerung begann, die betreffenden Schiffe zu boykottieren.

Eine bequeme Art der Golden-Gate-Überquerung verschafft einem der Shuttlebus zum Startplatz der San Francisco Helicopters. Die Maut kostet in Stadtrichtung 6 Dollar, nach Sausalito hin ist sie gratis. „Sie sprechen über eine Preiserhöhung. Sie nennen es effizienter machen“, erklärt Fred, der Busfahrer, „aber ich schätze, es heißt teurer machen.“ Fred lenkt den Bus, fliegt aber auch persönlich Rundflüge über die San Francisco Bay: Golden Gate, Downtown mit seinen Hochhäusern und Hügeln, Gefängnisinsel Alcatraz. Bei schönem Wetter erhalten seine Kunden den Bonus einer flugtechnischen Meisterleistung: der Helikopter taucht schwungvoll zwischen Brücke und Wasser durch.

Beeindruckend wirken von oben auch die glänzenden Leiber neben Pier 39, der Fisherman´s Wharf. Hier rasten Kalifornische Seelöwen faul auf den Planken. Wer sie vom Helikopter aus gesehen hat, wird sich auch an Land zum Wharf begeben. Kommen die Seelöwen zu nahe an die Menschen heran, werden sie mit Schläuchen weggespitzt, denn so sehr sie Wasser auch lieben, solches aus Schläuchen finden sie unbequem.

Ansonsten ist die Hafengegend herrscht deprimierender Massentourismus. Möwen von eventuell gentechnisch manipulierter Größe stürzen sich auf den Abfall, den die Leute hinter sich lassen. Jemand hat nämlich begonnen, Suppen in Sauerteigbrot zu gießen. Das Brot als Suppentopf – anderswo auf Zeitreisen in die Achtziger Jahre in Schihütten erhältlich – geht hier als traditionelles Gericht über den Ladentisch und von dort größtenteils geradlinig in die Mülleimer. Inhalt: Clam Chowder, eine Muschelsuppe von mehliger Konsistenz.

San Franciscos Bürger waren immer auf weitblickende Art rückwärtsgewandt: Als die Stadtverwaltung Ende der Vierziger Jahre die Cable Cars durch Dieselbusse ersetzen wollten, kämpfte die legendäre Friedel Klussmann (sie starb 1986 als 90-jährige) mit ihrem Komitee gegen die Auflassung – bis zu einem Referendum, das mit 166.989 zu 51.457 Stimmen gewonnen wurde. Durch das Engagement der Cable Car Lady und ihren Mitstreitern konnte die einzige Kabelstraßenbahn der Welt entgegen jeder Logik des 20. Jahrhunderts überleben.

Die Blumen, die man einst bei einem Besuch dieser Stadt laut populärem Liedtext nicht vergessen sollte, sich ins Haar zu stecken, spiegeln sich heute in einer knapp zwei Kilometer langen Einkaufsstraße entlang des Hippie-Viertels „The Haight“ im Westen San Franciscos. Der obere Teil am Golden Gate Park, auch Haight/Ashbury genannt, atmet den Sommer der Liebe, der 1966 bis 1967 stattgefunden haben soll – die Atmung besteht genau genommen aus einem Röcheln aus der Vergangenheit. Jedes denkbare Zubehör – von Kifferbedarf über Kleidung bis Musik – ist hier erwerblich, eine Lebensform aus einst aufregenden Träumen hat sich auf charmante Art kommerzialisiert. Ganz entschieden widersteht aber auch The Haight den Bemühungen der Gegenwart, es einzuholen, aufzufressen und zu verdauen. Vor dem lila Greatful-Dead-Haus stehen die Hippie-Yuppies aus allen Ländern und fotografieren einander, ein eher trübseliger Anblick. Die Sechziger Jahre sind verloren, die Achtziger sind aber weiterhin da, und The Haight wirkt entschlossen, keinen Schritt weiterzugehen.

Die originalen Urbewohner blicken durch die Stores und durch die Besucher hindurch, von denen sie leben. Viele von ihnen waren vielleicht schon seit einem halben Jahrhundert nicht mehr downtown, doch man kann darauf zählen, dass ihr Widerstand anhält. Denn wenn der 82-jährige Lyriker Lawrence Ferlinghetti am anderen Ende der Stadt nächstes Jahr aus seiner Wohnung in das älteste Caféhaus der Stadt hinübergeht, wird auch dort alles so sein wie immer.

Informationen: Reisende erhalten kostenlos deutschsprachiges Infomaterial zu Kalifornien bei www.visitcalifornia.de und bei Touristikdienst Truber unter TouristikdienstTruber@t-online.de, Infos vor Ort beim San Francisco Convention & Visitors Bureau www.onlyinsanfrancisco.com

Flug: United Airlines fliegt von Frankfurt Palm Springs über San Francisco an, www.unitedairlines.de.

Hotel, z.B. Comfort Inn by the Bay, 2775 Van Ness Avenue, San Francisco, CA, www.sanfranciscocomfortinn.com

Caffe Trieste, 601 Vallejo St, zwischen Grant und Columbus Avenue, North Beach, San Francisco, CA, www.caffetrieste.com

City Lights Bookstore, 261 Columbus Avenue, North Beach, San Francisco, CA, www.citylights.com

The Beat Museum, 540 Broadway, North Beach, San Francisco, www.kerouac.com.

Boudin Bakery, Bakers Hall, Fisherman´s Wharf, www.boudinbakery.com

Greatful Dead House, 710 Ashbury Street, zwischen Frederick und Walter St., The Haight,

San Francisco Helicopters LLC bietet Helikoptertouren mit Abholung im Stadtbereich und fliegt von Sausalito; Packages wie Vista, Vista Grande und Dinner on the Bay; SF / Local: 650.635.4500, Toll-Free:   800.400.2404, info@sfhelicopters.com, www.sfhelicoptertours.com,